Das Hochgefühl der Improvisation: Mathias Jansen erinnert sich

Das Hochgefühl der Improvisation: Mathias Jansen

Ein Rheinländer ohne jegliche Beziehungen zu Ostdeutschland, ging nach Leipzig, um seinen Postkollegen unter die Arme zu greifen.

„Mein Job in Köln war es, den Bedarf der Filialen und Niederlassungen an Postwertzeichen, also Briefmarken, Postkarten und so weiter, ständig zu ermitteln und die Filialen im Bezirk kontinuierlich zu beliefern.
Wie die meisten Rheinländer hatte ich vor der Maueröffnung und der Vereinigung keine besonderen Beziehungen zur DDR, zu Ostdeutschland. Wir hatten einige Bekannte in Halle, zu denen wir aber heute keinen Kontakt mehr haben. Ostdeutschland war für uns ein unbeschriebenes Blatt. Das hat sich gründlich geändert, seit ich ein dreiviertel Jahr in Leipzig gearbeitet habe.
Es fing damit an, daß ich Anfang 1992 hörte, daß man im VGO Probleme hatte, was die Bedarfsermittlung bei Wertzeichen anging, die Versorgung der Schalterkassen und das Abrechnungswesen. Man suche jemanden für die Wertzeichenverteilstelle Leipzig, der sich auch mit der Umstellung auf EDV auskennt. Also genau mein Fach. Leipzig war die einzige Verteilstelle, von der aus alle Direktionen des Verkehrsgebietes Ost bedient wurden. Eine ähnliche Funktion hatte die Vorgängereinrichtung für die Deutsche Post. Ich habe mich also gemeldet, und Anfang 1992 kam ein Anruf vom Abteilungsleiter des Postamts Leipzig: „Wir würden uns freuen, wenn Sie im Mai zu uns kämen!“
Ich bin dort übrigens sozusagen freiwillig hingegangen, ohne Aussicht auf Beförderung. Natürlich war mir die Aufwandsvergütung hochwillkommen, aber gereizt hat mich die Aufgabe. Hier im Westen läuft alles wie am Schnürchen, alles klappt. Ein eingefahrener Trott. Drüben waren unbürokratische Lösungen gefragt, Improvisation war dort Trumpf, wo hier 1000 Anträge hätten gestellt werden müssen.
In Leipzig war mein erster Weg ins Lager der Wertzeichenverteilstelle. Beinahe wäre ich in Ohnmacht gefallen! Dort wurden Mengen gelagert, die bestimmt ausgereicht hätten, die gesamte Bundesrepublik zehn Jahre lang mit Briefmarken zu versorgen. Nur um die Spitze der Paketstapel einer einzigen Wertzeichensorte zu sehen, brauchte man eine Leiter. Ein Irrsinn, was da gehortet wurde. Ich kann’s den Leuten nicht einmal verübeln. Dahinter verbarg
sich, was nicht schwer herauszufinden was, das alte Hort- und Sammeldenken der DDR-Bürokratie, nach dem Motto, es könnte mal wieder knapp werden.
Die zuständigen Stellen im Westen hätten dieses Horten stoppen können, aber die haben jede Anforderung aus Leipzig promot bedient. Im Osten war schließlich alles Neuland, und keiner kannte den tatsächlichen Bedarf an Wertzeichen. Eine Rücklieferung an die Bundesdruckerei war nicht möglich. Wir haben diese grotesken Berge aus Briefmarken dann peu à peu abgebaut, indem wir mit der Bundesdruckerei abgesprochen haben: „Wenn bei euch Bestellungen aus dem Westen kommen, gebt sie an uns in Leipzig weiter. Wir beliefern die, damit wir hier von den Beständen runterkommen.“ Bis die Lager auf ein normales Maß schrumpften, verging ein Jahr.
Abgesehen von solchen Merkwürdigkeiten habe ich es drüben sehr gut getroffen. Unter anderem hatte ich das Glück, nicht im Postwohnheim oder im Hotel einquartiert zu werden, wo die Westdeutschen unter sich waren. Ich hatte quasi Familienanschluß bei Privatleuten. Bei der Gelegenheit habe ich übrigens auch ein ums andere Mal mitbekommen, wie die Leute im Osten von Westdeutschen beschissen wurden, um es mal ganz deutlich zu sagen.

Ein Beispiel: Meine Wirtsfamilie brauchte neue Jalousien, und sie hatten bei einer Rolladenfirma um einen Kostenvoranschlag gebeten. Die Firma rückte mit einer bemerkenswert hübschen jungen Dame und einem Vertreter an. Das Mädchen lächelte süß, und der smarte Vertreter füllte unentwegt irgendwelche Formulare aus. Er legte meinen Leuten schließlich ein Formular vor mit der Bitte, mal eben zu unterschreiben. Sie baten mich, drüber zu schauen. Siehe da: Es war kein Kostenvoranschlag, sondern ein Kaufvertrag.
Auch im Betrieb kamen wir sehr gut miteinander zurecht, obwohl  es auch meine Aufgabe war, die Belegschaft auf eine wirtschaftliche Zahl zu reduzieren. Die Wertzeichenstelle bestand aus 12 Mitarbeiterinnen, als ich dort anfing. Heute arbeiten dort sechs Postler.
Ich kreide es mir im nachhinein als „Verdienst“ an, dass ich mich dafür eingesetzt habe, dass keine der sechs Kolleginnen entlassen wurde. Jede konnte woanders bei der Post untergebracht werden. Zugegeben, nicht gerade Traumjobs, aber sie behielten ihre Arbeit zu den gleichen Bedingungen wie in der Wertzeichenverteilstelle.
Es war übrigens nicht so, dass die Kolleginnen auf der faulen Haut gelegen hätten. Sie mussten teilweise sinnlose Arbeiten ausüben, die auch noch Körperlich schwer waren. Noch nach der Wende wurden Lastwagen, die von der Bundesdruckerei mit Wertzeichenpaketen kamen, per Hand und Menschenkette
ausgeladen, statt mit dem bereitstehenden Gabelstapler. Den zu benutzen hatte ihre Leiterin nicht gestattet. Sie war auch verantwortlich dafür, dass der Betrieb zeitweise in Bürokratie und Formalismus erstickte. Mit der Dame, von der sich die Post alsbald trennte, bin ich nicht zurechtgekommen. Sie sehnte sich nach den alten Zeiten, konnte aber den Mitarbeiterinnen nicht einmal den Sinn der Arbeit vermitteln. Stattdessen rief sie regelmäßig Mitte 1992 (!) sogenannte Kollektivberatungen ein. Dann wurde die laufende Arbeit unterbrochen und über allgemeine Themen diskutiert, mit Protokoll und Niederschrift und allen Schikanen. Eine Woche, nachdem ich in Leipzig angefangen hatte, nahm ich an einer dieser Beratungen teil. Das Thema war: Fahrpreiserhöhungen der Leipziger Straßenbahnen. Nach zehn Minuten habe ich das abgebrochen und gesagt: „Dafür werden wir nicht bezahlt.“ Zuerst waren die Kolleginnen sehr verwundert. Das sei, sagte sie, gang und gäbe. Als ich nach zwei, drei Wochen einen besseren Überblick bekommen hatte, traf ich auf eine Kollegin. Sie ist heute Leiterin der Stelle.
Ich fragte: „Was machen Sie eigentlich?“ Sie antwortete: „Ich schreibe diese Listen hier ab.“ Ich: „Und was passiert mit den Listen?“ Sie: „Die hefte ich ab.“ Ich: „Und was wird dann?“ Sie: „Keine Ahnung.“ Ich habe den Ordner geschnappt und auf den Müll geschmissen. Eine Arbeit, die keinen Sinn ergibt, ist menschenverachtend.
Darum waren die Kolleginnen nicht besonders unglücklich, als wir im Laufe der Zeit die Arbeitsabläufe zügiger und sinnvoller gestalten konnten. Man brauchte sie dann auch nicht lange zu überreden, wenn es drum ging, die eine oder andere Überstunde dranzuhängen. Sie verstanden das betriebliche Problem, merkten, dass sie wirklich gebraucht wurden, weil es Probleme gab, und machten mit. Wir sind hervorragend miteinander ausgekommen. Wenn es nach mir gegangen wäre und wenn meine Familie mitgespielt hätte, wäre ich in Leipzig geblieben. Man hat mir den Job mindestens zweimal angeboten. Finanziell hätte es sich sicherlich rentiert – ich wäre alsbald in den gehobenen Dienst befördert worden. Aber die Familie hat nein gesagt.“