Rätsel um die Warteschlange: Erika von Fisenne erinnert sich

Erika von Fisenne

Für die Postler im Ostteil der Stadt bedeuteten die Wendewochen 1989/90 den schier überwältigenden Zwang, mit Sendungsmengen fertig zu werden, die das 400 bis 500fache der üblichen Post übertrafen. Für die West-Berliner Postler waren die Wendetage, ähnlich wie für viele ihrer Kolleginnen und Kollegen in grenznahen Postämtern, das Synonym für Begrüßungsgeld. Zur Erinnerung: Jeder DDR-Bewohner, der die Bundesrepublik besuchte, hatte das Recht auf ein einmaliges „Begrüßungsgeld“ in Höhe von 100 DM. Den Einrichtungen der Berliner Post wurde die Auszahlung am Freitag, 10. November, auferlegt. Fatalerweise erst um 16.00 Uhr nachmittags, als sich die zuständigen Fachleute im Westen längst ins Wochenende verabschiedet hatten.
Erika von Fisenne, damals Vize-Präsidentin der Landespostdirektion:
„Wir haben die Ämter, die in der Nähe von Grenzübergangsstellen gelegen waren, angewiesen zu zahlen. Ohne schriftliche Verfahrensregeln, ohne Verfügung. Die Amtsleiter sollten ihre normalen Tageseinnahmen, die sie ansonsten abends abführen, zur Auszahlung des Begrüßungsgeldes verwenden. Die Bestimmung mussten wir wenige Stunden später auf alle Postämter der Stadt ausdehnen – grenznah hin oder her.

Samstags morgens um 7 Uhr rief nämlich ein Amtsleiter aus Berlin- Neukölln bei mir Zuhause an und fragte ein wenig ratlos: ‚Was soll ich machen? Vor meiner Tür stehen 1000 Leute, die ihr Begrüßungsgeld haben wollen?’
Es gab damals unter den Kolleginnen und Kollegen eine große Welle der Hilfsbereitschaft. Alle opferten ihr Wochenende, keiner achtete auf Dienstschluss oder Feierabend. In Eigeninitiative haben die Kolleginnen und Kollegen teilweise Toilettenwagen und Wickelstuben eingerichtet, damit auch die Babys versorgt werden konnten.“
So kam es denn, dass sich vor einem Toilettenwagen in Berlin- Lichtenrade eine Schlange bildete, die rätselhafterweise immer länger wurde. Sie löste sich schlagartig auf, als man den Letzten erklärte, worauf die Vorderen wirklich warteten – auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse.
Kinder und Säuglinge hatten den gleichen Anspruch auf die einmaligen 100 DM wie ihre Eltern und Großeltern. Um Manipulationen vorzubeugen, war vorgesehen: Kinder und Babys müssen dabei sein, wenn ausgezahlt wird. Der Eintrag in den Pass allein reicht nicht.

Erika von Fisenne:
„Das war eine etwas unbarmherzige Vorschrift, die wir damals für die Berliner Ämter teilweise gelockert oder sogar aufgehoben haben. Mit etwas Bammel, zugegeben. Als alles vorbei war, kamen 2 Beamte des Bundesrechnungshofes nach Berlin, um das Auszahlungsverfahren zu prüfen.
Wir begleiteten den Prüfer zum Postamt Berlin 36 (Kreuzberg), und er traf ausgerechnet auf eine Familie mit fünf Kindern. ‚Sind die Kinder dann auch da?’, fragte er argwöhnisch. Mir wurde mulmig, aber die Mutter klatschte in die Hände, und schwupp, standen fünf Kinder um uns herum. Glück gehabt.“
Tatsächlich haben einige Grenzgänger das Auszahlungssystem, das auf die Schnelle und aus der Not geboren wurde, ausgenutzt und manipuliert. Die bundesdeutschen Dienststellen ließen aber die schwarzen Schafe wissen: Wer zurückzahlt, kommt ungeschoren davon. „Auf diese Weise“, lacht Erika von Fisenne, „bekamen wir unerwartet um die 100.000 DM überwiesen, und unsere Buchhalter wussten zuerst gar nicht, wo und wie sie den Betrag verbuchen sollten.“